Inhalt
    • 1927: Dispens statt Scheidung

      Das Eherecht war zu Beginn der Ersten Republik noch konfessionell ausgerichtet. Katholiken war eine Wiederverheiratung nur durch eine spezielle verwaltungsbehördliche Nachsicht von Ehehindernissen („Dispens“) möglich. Der Streit darüber führte 1929 zu einer Neubesetzung des VfGH.

      In der Literatur ist von den sogenannten „Sever-Ehen“ die Rede: Albert Sever, sozialdemokratischer Landeshauptmann von Niederösterreich in den Jahren 1919 bis 1920 (damals noch inkl. Wien), machte in großer Zahl von der ihm gegebenen Möglichkeit Gebrauch, Katholiken für den Fall einer zweiten Verheiratung per Verwaltungsakt eine Dispens von Ehehindernissen zu gewähren. Nach 1918 kam diese Praxis einem Tabubruch gleich: Das Eherecht war im Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches (ABGB) geregelt und in der Tradition der Monarchie konfessionell ausgerichtet. Für Katholiken bestand daher nur die Möglichkeit einer Aufhebung der Lebensgemeinschaft bei weiter bestehendem Eheband („Trennung von Tisch und Bett“). Eine formelle Scheidung und damit eine neue Hochzeit blieben ihnen verwehrt. Forderungen der Sozialdemokratie und des großdeutschen Lagers nach Einführung einer obligatorischen Zivilehe (zu schließen vor einer staatlichen Behörde statt in der Kirche) sowie der Ehescheidung scheiterten am strikten Nein der christlich-sozialen Partei.

      Vor diesem Hintergrund blieb Scheidungswilligen nur § 83 ABGB. Dieser sieht vor, dass die „Landesstelle“ Scheidungswilligen aus wichtigen Gründen Dispens von Ehehindernissen gewähren kann. Vor 1918 nur ganz selten als monarchischer Gnadenakt erteilt, wurde diese Vorgangsweise nach 1918 in Niederösterreich unter Sever und nach der Trennung Wiens von Niederösterreich in Wien (1921–1934), wo dann ebenfalls die Sozialdemokraten regierten, sowie teilweise in Kärnten geradezu zur Regel. Sever unterschrieb an manchen Tagen bis zu 100 Dispensen, wie er selbst in seiner Autobiographie bekannte.

      Juristisch gingen die Meinungen über die Zulässigkeit und die Wirkungen der Dispensen sowie ihre Konsequenzen auseinander: War ein bestehendes Eheband überhaupt ein dispensierbares Ehehindernis? Lösten diese Verwaltungsakte das bestehende Eheband auf, damit mit der neuerlichen Heirat keine strafrechtlich verfolgte Bigamie entstehen konnte? Oder hatten sie eben diese auflösende Wirkung nicht? War die Dispensehe daher überhaupt gültig? Bestanden nun zwei Ehen nebeneinander? Auch die zivilrechtlichen Folgen (Erb- und Familienrecht, Witwenversorgung, Pensionsrecht) waren unklar.

      Die Folge war ein „Wirrwarr“, wie es in zeitgenössischen Darstellungen heißt: Verwaltungsbehörden erließen massenhaft Dispensen, Verwaltungsgerichtshof und Oberster Gerichtshof hingegen hoben sie auf bzw. erkannten sie nicht an. Nach Ansicht des OGH waren Gerichte in einem Eheungültigkeitsverfahren befugt, die Dispensen als Vorfrage zu prüfen; sie müssten die Dispensehe durch Richterspruch für ungültig erklären, was sie auch taten. Dispensehen waren somit permanent von einer gerichtlichen Ungültigkeitserklärung bedroht.

      Schließlich griff der Verfassungsgerichtshof ein und hob in einem Aufsehen erregenden Erkenntnis vom 5. November 1927 (VfSlg 878) ein Urteil eines Zivilgerichtes auf, welches eine Dispensehe für ungültig erklärt hatte. Der VfGH hielt fest, dass es sich um einen (indirekten) positiven Kompetenzkonflikt zwischen Verwaltungsbehörde und Justiz handle. Allein die Verwaltungsbehörde sei zur Erteilung eines Dispens befugt. Gerichte hätten keine Zuständigkeit, über diese als Vorfrage selbständig zu entscheiden. Damit setzte sich der VfGH in krassem Widerspruch zur Judikatur der anderen Höchstgerichte, was angesichts der weltanschaulich heiklen Materie schnell engagierte Kontroversen in der Wissenschaft, massive politische Kritik am VfGH und heftige mediale Angriffe gegen den Referenten des Falles, Prof. Hans Kelsen, auslöste.

      Kelsen empfand die Frage der Dispensehen als Skandal und staatliches Legitimationsproblem: „Derselbe Staat, der durch seine Verwaltungsbehörden die Schließung einer [neuen] Ehe ausdrücklich erlaubte, erklärte durch seine Gerichte eben diese Ehe für ungültig. Die Autorität des Staates konnte kaum in ärgerer Weise erschüttert werden.“ Kelsen hatte nach eigenem Bekunden keinen Zweifel daran, dass ein Kompetenzkonflikt vorlag. Er wies einen Rat suchenden Rechtsanwalt auf diese Möglichkeit hin und setzte seine Meinung als Referent auch im VfGH durch.

      Der VfGH behielt diese Judikaturlinie bis Ende 1929 in etwa 170 Fällen bei. Doch der OGH reagierte. Er sah die Dispensen nun als absolut nichtige Verwaltungsakte an, weil sie die Doppelehe ermöglichten. Gerichte konnten Dispensehen also weiterhin für ungültig erklären – außer in den Fällen, in denen der VfGH schon einen Kompetenzkonflikt festgestellt hatte. Allein diese Entscheidungen waren für die Gerichte bindend. Eine Prüfung der Dispensen blieb ihnen verwehrt und diese waren damit als rechtswirksam anzuerkennen.

      Der Konflikt um die Dispensehen war schließlich mit ein Grund zur vorgeblichen „Entpolitisierung“ des VfGH durch die Bundes-Verfassungsgesetz-Novelle 1929. Tatsächlich erfolgte eine „Umpolitisierung“: Die amtierenden Mitglieder des VfGH wurden mit Verfassungsgesetz abberufen und der VfGH mittels eines neuen Bestellungsmodus und der Einziehung einer Altersgrenze von 70 Jahren vollkommen neu besetzt.

      Kelsen, maßgeblicher Mitgestalter der österreichischen Bundesverfassung, hätte auf Vorschlag der Sozialdemokraten erneut in den VfGH einziehen können, lehnte dies aber entschieden ab. Er nahm einen Ruf an die Universität Köln an und verließ Österreich. Die persönlichen Angriffe und Vorgänge um die Entpolitisierung hatten ihn stark verbittert.

      Der neu zusammengesetzte VfGH änderte bereits mit Erkenntnis vom 7. Juli 1930 (VfSlg 1341) die von Kelsen seit 1927 propagierte Linie und kehrte zur Vorjudikatur zurück. Der VfGH erklärte sich nun in den Ehedispensfällen mangels Vorliegens eines Kompetenzkonfliktes für unzuständig. Das Konstrukt eines indirekten positiven Kompetenzkonflikts gehörte wieder der Vergangenheit an.

      Heutige Lehre (insbesondere auch Vertreter der Reinen Rechtslehre) und Judikatur sind einhellig der Meinung, dass Kelsens Lösung dogmatisch nicht überzeugt und es sich bei den fraglichen Problemen um einen Bindungskonflikt und nicht um einen Kompetenzkonflikt handelt. Letzterer wäre allein dann anzunehmen, wenn zwei Behörden die Zuständigkeit in der Hauptsache in Anspruch nehmen. Beim Bindungskonflikt hingegen ist zu klären, ob eine Behörde bei der Entscheidung einer Hauptsache an die rechtskräftige Entscheidung einer Vorfrage einer anderen Behörde gebunden ist.

      Für die Betroffenen – 1935 soll es etwa 70.000 „Sever-Ehen“ gegeben haben – war vorerst aber keine Rechtssicherheit gegeben. Diese folgte erst 1938, als auf dem Gebiet des früheren Österreich das deutsche Ehegesetz in Kraft trat. Damit wurde auch die obligatorische Zivilehe eingeführt. Rund 49.000 österreichische Trennungen von Tisch und Bett wurden in vollwirksame Ehescheidungen umgewandelt. Nach dem Ende der Nazi-Diktatur 1945 übernahm die Republik Österreich das von nationalsozialistischen Spuren bereinigte Ehegesetz mit den Bestimmungen über Zivilehe und Scheidung.

    • Prof. Dr. Hans Kelsen, ca. 1925 

      Prof. Dr. Hans Kelsen, ca. 1925.
      (Foto: ÖNB/Bildarchiv)


      Albert Sever, 1927 

      Albert Sever, Landeshauptmann von Niederösterreich 1919–1920, ermöglichte  unter seiner Ägide die liberale Dispenserteilung.
      (Foto: ÖNB/Bildarchiv)


      Prof. Dr. Hans Kelsen vor dem VfGH (Karikatur aus: Der Morgen. Wiener Montagblatt, 10.02.1930) 

      „Prof. Dr. Hans Kelsen wurde in dem neuen Verfassungsgerichtshof zum Mitglied nicht ernannt, obwohl er der Schöpfer dieser höchsten Gerichtsbarkeit ist.“
      Karikatur in „Der Morgen. Wiener Montagblatt, 10.02.1930“, S. 7.(Foto: ÖNB/ANNO)


      Albert Sever (Karikatur aus: Der Morgen. Wiener Montagblatt, 04.08.1930) 

      „Nationalrat Albert Sever. Der Schöpfer der Dispensehen“
      Karikatur in „Der Morgen. Wiener Montagblatt, 04.08.1930“, S. 7. (Foto: ÖNB/ANNO)


      Protestaufruf des Freidenkerbundes, 1930 

      Der Freidenkerbund ruft zum Protest gegen die Judikaturänderung des VfGH in der Frage der Dispensehen auf und fordert eine Eherechtsreform, 1930.
      (Foto: ÖNB/Bildarchiv)

    erweitern
Hintergrundfarbe für den Eintrag: