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    • 1974: Fristenlösung

      Die umstrittene Frage der straffreien Abtreibung beschäftigte 1974 auch den Verfassungsgerichtshof – mit dem Ergebnis, dass die sogenannte Fristenlösung zulässig sei.

      § 97 Abs 1 Z 1 Strafgesetzbuch sieht vor, dass ein Schwangerschaftsabbruch nicht strafbar ist, wenn er „innerhalb der ersten drei Monate nach Beginn der Schwangerschaft nach vorhergehender ärztlicher Beratung von einem Arzt vorgenommen wird“. Dem Beschluss und dem Inkrafttreten dieser als „Fristenlösung“ bekannten Regelung mit 1. Jänner 1975 war ein langes politisches, gesellschaftliches und juristisches Tauziehen vorausgegangen. Der Verfassungsgerichtshof beschäftigte sich auf Antrag der Salzburger Landesregierung noch vor dem Inkrafttreten mit der Fristenlösung und bestätigte im Zuge einer abstrakten Normenkontrolle deren Vereinbarkeit mit der Verfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).

      Die Fristenlösung steht im Zusammenhang mit einer umfassenden Neukodifikation des Strafrechts zur Zeit der SPÖ-Alleinregierung (1970–1983). Das alte Strafgesetz stammte ursprünglich aus 1852 und war 1971 nur teilweise modernisiert worden. Nun trat das neue Strafgesetzbuch 1974 (StGB 1974, BGBl 1974/60) an seine Stelle. Der Großteil des StGB stand politisch außer Streit und wurde im Nationalrat einstimmig angenommen. Die Regelungen um den Schwangerschaftsabbruch und vor allem die Fristenlösung wurden dagegen im Nationalrat allein mit den Stimmen der SPÖ beschlossen. Einem Einspruch des Bundesrates folgte ein Beharrungsbeschluss des Nationalrats. Am 1. Jänner 1975 trat die Neuregelung in Kraft.

      ÖVP, FPÖ sowie die katholische Kirche waren vehement gegen die Straffreiheit der Fristenlösung aufgetreten. In der Zivilgesellschaft hatten sich zudem Befürworter („Aktionskomitee zur Abschaffung des § 144“) wie Gegner der Abtreibung („Aktion Leben“) formiert. Ein Volksbegehren zum „Schutz des menschlichen Lebens“ der „Aktion Leben“ wurde 1975 immerhin von 895.655 Personen unterschrieben.

      Der VfGH wurde in der Sache aufgrund eines Antrags der ÖVP-geführten Salzburger Landesregierung tätig. Diese stellte am 15. März 1974 den Antrag, § 97 Abs 1 Z 1 StGB wegen Verfassungswidrigkeit aufzuheben. Sie argumentierte mit einer Verletzung ua der in Österreich im Verfassungsrang stehenden EMRK (Art 2, 8 und 12: Schutz des Lebens, Achtung des Familienlebens, Recht auf Familiengründung), sowie des Gleichheitsgrundsatzes, wonach kein menschliches Wesen schlechter als andere gestellt werden dürfe.

      Mit Erkenntnis vom 11. Oktober 1974 (VfSlg 7400) wies der VfGH den Antrag ab. Aus Art 2 EMRK gehe nicht eindeutig hervor, ab welchem Zeitpunkt der Schutz des Lebens beginnt. Auch in der Literatur gingen die Meinungen auseinander (Schutz ab dem bereits keimenden Leben? Schutz erst ab Geburt?). Der VfGH vertrat die Auffassung, dass bei einer Gesamtbetrachtung des Art 2 EMRK das ungeborene Leben nicht erfasst sei. Zudem sah der VfGH keine Verletzung der sonstigen von der Salzburger Landesregierung geltend gemachten Rechte. Zum Gleichheitssatz vermerkte er etwa: „Wie immer die getroffene Regelung in rechtspolitischer Hinsicht beurteilt werden mag — je nach dem religiösen, weltanschaulichen oder auch wissenschaftlichen Standpunkt des Betrachters kann sie abgelehnt oder auch gutgeheißen werden —, eine den Gleichheitsgrundsatz verletzende Unsachlichkeit kann in der Regelung nicht erkannt werden“.

      In den Grundrechten sah der VfGH durchaus charakteristisch für die damalige Judikatur typisch liberale Abwehrrechte gegen den Staat. Die Fristenlösung stelle demnach keinen „staatlichen Eingriff in das Leben“ dar. Dieses Verständnis wandelte sich später. Aktuell werden aus den Grundrechten auch Gewährleistungs- und Schutzpflichten des Staates abgeleitet. Vor diesem Hintergrund würde wohl auch die Begründung dieses Erkenntnisses anders ausfallen. 

    • Demonstration vor dem Parlament gegen die Fristenlösung 1979 

      Demonstration vor dem Parlament gegen die Fristenlösung 1979.
      (Foto: ÖNB Bildarchiv)


      Demonstration für Fristenlösung 1984 

      Demonstration für Fristenlösung 1984.
      (Foto: ÖNB Bildarchiv)

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