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    • 2001: verfassungswidriges Verfassungsrecht

      Der VfGH ist auch Hüter der Grundprinzipien der Verfassung. Am 11. Oktober 2001 hob er mit § 126a Bundesvergabegesetz erstmals eine Verfassungsbestimmung als verfassungswidrig auf. 

      Anlass für die Prüfung des Bundesvergabegesetzes (BVerG) waren mehrere Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Einrichtung des Salzburger Vergabekontrollsenates nach dem Salzburger Landesvergabegesetz (G 12/00). Vor Erledigung dieser Verfahren hatte der österreichische Bundesgesetzgeber im Dezember 2000 einen § 126a BVergG als Verfassungsbestimmung eingeführt, der alle landesgesetzlichen Regelungen hinsichtlich Organisation und Zuständigkeit von Rechtsschutzorganen im Vergabeverfahren mit 1. Jänner 2001 für nicht verfassungswidrig erklärte und befristet bis zum 31. August 2002 absicherte.

      Hintergrund dieses Gesetzesbeschlusses war ein Erkenntnis des VfGH, der eine Regelung des Bundesvergabegesetzes aufgehoben hatte. Für eine Neuregelung des Bundesvergabegesetzes hatte die damals von ÖVP und FPÖ gestellte Bundesregierung im Nationalrat vorerst aber nicht die nötige Verfassungsmehrheit gefunden. Stattdessen einigten sich die Fraktionen einhellig auf den Kompromiss, dass bis zum Beschluss einer Neuregelung die alten Bestimmungen in Kraft bleiben sollten, und sicherten diesen mit einer Verfassungsbestimmung ab.

      Damit wäre dem Verfassungsgerichtshof allerdings die Prüfung der Zuständigkeit des Salzburger Vergabekontrollsenats verfassungsgesetzlich entzogen gewesen. Der VfGH leitete daraufhin ein eigenes Gesetzesprüfungsverfahren hinsichtlich der Bestimmung des § 126a BVergG ein (G 132-136/01). Darin kam der Gerichtshof zum Ergebnis, dass der (einfache) Verfassungsgesetzgeber nicht berechtigt ist, die Bundesverfassung in ihrer Wirkung als Maßstab für die unterverfassungsgesetzliche Rechtsordnung schlechthin zu suspendieren. Ein „Verlust der Maßstabsfunktion“ der Verfassung läuft nämlich sowohl dem rechtsstaatlichen als auch dem demokratischen Prinzip zuwider (VfSlg 16.327). Ob eine derartige Verfassungssuspendierung im Wege einer Gesamtänderung der Bundesverfassung durch Volksabstimmung herbeigeführt werden könnte, ließ der VfGH ausdrücklich dahingestellt. 

      Mit dieser Entscheidung war klargestellt, dass es ein übergeordnetes Verfassungsrecht in Gestalt der Grundprinzipien der Verfassung gibt und der VfGH dazu berufen ist, die Wahrung dieser Grundprinzipien zu garantieren. Der VfGH ist daher nicht nur Hüter der Verfassung, sondern auch Hüter der Grundprinzipien der Bundesverfassung.

    • Justitiafigur am Gebäude des VfGH auf dem Judenplatz 

      Justitiafigur an der Fassade der Böhmisch-österreichischen Hofkanzlei, dem Sitz des Verfassungsgerichtshofes bis 2012.
      (Foto: VfGH/Achim Bieniek)

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