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    • 2016: Bundespräsidenten-Stichwahl

      Am 1. Juli 2016 hob der Verfassungsgerichtshof mit dem zweiten Wahlgang der Bundespräsidentenwahl erstmals eine bundesweite Wahl zur Gänze auf.

      Auskunftsperson nach Auskunftsperson trug in der mehrtägigen öffentlichen Verhandlung des Verfassungsgerichtshofes zur Anfechtung der Bundespräsidenten-Stichwahl vom 22. Mai 2016 einen Teil zum Gesamtbild bei. Am Schluss stand die Erkenntnis der Verfassungsrichter und -richterinnen, dass in 14 österreichischen Wahlbezirken die Vorschriften für die Auszählung der Briefwahlstimmen verletzt worden waren. Betroffen waren rund 77.000 Stimmen  – so viele, dass die Unregelmäßigkeiten Einfluss auf das Ergebnis haben konnten. Der langjährigen Rechtsprechung folgend musste der VfGH die Wahl daher aufheben. Ein zweiter Grund für die Aufhebung war die vorzeitige Weitergabe von Teilergebnissen an die Medien. Dies war zwar über Jahrzehnte geübte und allgemein bekannte Praxis, war zuvor aber noch nie an den VfGH herangetragen worden.

      Im Jahr 2016 wählten die Österreicherinnen und Österreicher einen neuen Bundespräsidenten. Aus dem ersten Wahlgang am 24. April 2016 gingen als Stimmenstärkste mit Ing. Norbert Hofer und Dr. Alexander Van der Bellen zwei Kandidaten hervor, die in weiterer Folge im Rahmen einer Stichwahl am 22. Mai 2016 erneut gegeneinander antraten. Bei diesem zweiten Wahlgang konnte Dr. Van der Bellen mit 50,3 % der Stimmen knapp die Wahl für sich entscheiden. Im Anschluss an die Verlautbarung des amtlichen Wahlergebnisses durch den Innenminister brachte der Zustellungsbevollmächtigte des unterlegenen Kandidaten beim VfGH eine Wahlanfechtung nach Art. 141 Abs. 1 lit. a B-VG ein. Diese stützte sich maßgeblich auf behauptete Verfahrensfehler im Zuge der Behandlung von Wahlkarten in zahlreichen Bezirkswahlbehörden österreichweit.

      Der VfGH führte in der Folge ein umfangreiches Ermittlungsverfahren einschließlich öffentlicher, mündlich durchgeführter Beweisaufnahmen mit 90 Zeugen aus allen Bundesländern durch. Nachdem gem. § 21 Abs. 2 1. Satz Bundespräsidentenwahlgesetz eine Entscheidung über die Wahlanfechtung binnen vier Wochen zu treffen war, stand der VfGH angesichts der großen Zahl an Beweiserhebungen unter starkem Zeitdruck. Am 1. Juli 2016 verkündete Präsident Holzinger das Erkenntnis  W I 6/2016 mündlich (VfSlg 20.071). Diese mündliche Verkündung wurde vom ORF erstmals auch live im Fernsehen übertragen.

      Der Anfechtung der Wahl wurde stattgegeben. Das Verfahren vor dem  VfGH hatte ergeben, dass in 14 österreichischen Wahlbezirken bei der Ermittlung des Ergebnisses der Briefwahl gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der geheimen Wahl und gegen Bestimmungen des BPräsWG verstoßen worden war. Zweck dieser Bestimmungen ist es, Manipulationen und Missbräuche im Wahlverfahren auszuschließen. So wurden Wahlkarten insbesondere durch nicht hiezu befugte Personen oder zu früh geöffnet. Von den festgestellten Rechtswidrigkeiten waren rund 77.000 Stimmen betroffen. Da der Stimmenunterschied zwischen den beiden Wahlwerbern nur rund 30.000 Stimmen betrug, waren Rechtsvorschriften in einem Ausmaß verletzt, das von Einfluss auf das Wahlergebnis sein konnte.

      Die Aufhebung der Stichwahl folgte der über Jahrzehnte geübten strengen Rechtsprechung. Der VfGH hat Wahlen immer dann aufgehoben, wenn die Verletzung von Rechtsvorschriften, die Missbrauch und Manipulation verhindern sollen, erwiesen war und davon eine derart große Zahl von Stimmen betroffen war, dass diese Rechtsverletzungen von Einfluss auf das Ergebnis sein konnten. Der Gerichtshof hebt in diesen Fällen auf, und zwar ohne Spekulationen darüber anzustellen, ob diese Gesetzesverletzungen tatsächlich zu Manipulationen geführt haben.  Bei der Bundespräsidentenwahl war außerdem österreichweit aufzuheben, weil – anders als bei Wahlen zum Nationalrat oder zu Landtagen –bei Wahlkarten keine Zuordnung zu den Wahlkreisen der Wählerin bzw. des Wählers erfolgt. Es wäre daher nicht auszuschließen, dass bei einer Teilaufhebung am Ende manche Wähler ihre Stimmen gar nicht, andere aber doppelt hätten abgeben können.

      Der zweite Aufhebungsgrund bestand darin, dass Informationen über Wahlergebnisse vor Wahlschluss vom Innenministerium an Medien und Forschungsstellen weitergegeben worden waren. Der Gerichtshof bewertete diese Vorgangsweise als Verstoß gegen den Grundsatz der „Freiheit der Wahl“ und das Postulat der „Reinheit der Wahl“. Diese sollen sicherstellen, dass der wahre Wille der Wählerschaft im Wahlergebnis zum Ausdruck kommt. Diese jahrzehntelange Vorabübermittlung von Zwischenergebnissen war erstmals Gegenstand einer Wahlanfechtung und konnte deshalb auch erst jetzt vom VfGH aufgegriffen werden. Insbesondere die Möglichkeiten der modernen Kommunikation mittels Social Media haben dieses Problem potenziert. Schnell durchsickernde Meldungen über angeblich knappe Wahlergebnisse können Einfluss auf das Wahlverhalten haben.

      Die Wiederholung der Stichwahl fand schließlich am 4. Dezember 2016 statt: Dr. Alexander Van der Bellen wurde mit 53,8 % der Stimmen zum Bundespräsidenten gewählt. Ein erster Termin für die Wiederholungswahl Anfang Oktober hatte wegen des Einsatzes eines mangelhaften Klebstoffes bei der Produktion von Briefwahlkarten verschoben werden müssen.

    • Amtlicher Stimmzettel zur Bundespräsidentenstichwahl 2016 

      Stimmzettel für den (später aufgehobenen) zweiten Wahlgang (Bundespräsidentenstichwahl) in der Wahlzelle
      (Foto: Christian Michelides, CC BY-SA 4.0)


      Der Verfassungsgerichtshof während der öffentlichen Verhandlung 

      Die Mitglieder des Verfassungsgerichtshofes während der öffentlichen Verhandlung anlässlich des Wahlverfahrens zur Bundespräsidenten-Stichwahl
      (Foto: Christian Michelides , CC BY-SA 4.0)


      Die öffentliche Verkündung des Erkenntnisses zur Bundespräsidentenstichwahl am 1. Juli 2017 

      Der ORF übertrug die öffentliche Verkündung
      des Erkenntnisses am 1. Juli 2016 live im Fernsehen.

      Ein Mitschnitt der öffentlichen Verkündung findet sich in der ORF-TVTHEk: Bundespräsidentenwahlen in Österreich

      Das Video kann unter diesem Link angesehen werden:
      Historisches Urteil: VfGH erklärt Stichwahl für ungültig
      (34:16 Min.)

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