Inhalt
    • 1956: der „archivarische Fleiß“

      Ein Spruch des VfGH stellt klar, dass eine Norm auch verständlich sein muss, um verbindlich zu sein.

      Das niederösterreichische Landesgesetz vom 26. April 1950 betreffend die Wiederingeltungsetzung elektrizitätsrechtlicher Vorschriften (nö. LGBl 1950/29) bzw. ein Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes dazu schrieben österreichische Rechtsgeschichte. Der VfGH stellte mit einem in der Rechtswissenschaft berühmt gewordenen Satz klar, dass der Inhalt eines Gesetzesbeschlusses der breiten Öffentlichkeit „in klarer und erschöpfender Weise“ zur Kenntnis gebracht werden müsse, um den Betroffenen überhaupt die Möglichkeit zu geben, sich normgemäß zu verhalten. Wörtlich heißt es in der Entscheidung vom 14. Dezember 1956 (VfSlg 3130): „Eine Vorschrift, zu deren Sinnermittlung subtile verfassungsrechtliche Kenntnisse, qualifizierte juristische Befähigung und Erfahrung und geradezu archivarischer Fleiß von Nöten sind, ist keine verbindliche Norm.“

      Der VfGH prüfte das fragliche Landesgesetz anlässlich einer Bescheidbeschwerde. Das Gesetz hatte „alle Vorschriften über das Elektrizitätswesen, deren Wirksamkeit ab 20. Oktober 1948 erloschen [war], als landesgesetzliche Vorschriften für das Land Niederösterreich in Wirksamkeit gesetzt“. Der VfGH hatte Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes, mit dem„ein ganzes Rechtsgebiet, so wie es an einem bestimmten Tage in Geltung gestanden war, und welches aus zahlreichen Vorschriften zusammengefügt war, welche zu verschiedenen Zeitpunkten erlassen und in verschiedenen Publikationsorganen verlautbart worden waren“, pauschal als Landesrecht in Geltung gesetzt wurde. Die fraglichen Regelungen stammten teilweise aus der Zeit vor 1945 und fanden sich weit verstreut u.a. im (deutschen) Reichsgesetzblatt, im Deutschen Reichsanzeiger und in anderen Kundmachungsblättern. Am Ende eines daraufhin von Amts wegen eingeleiteten Gesetzesprüfungsverfahren gem. Art 140 B-VG hob der VfGH das Gesetz schließlich als verfassungswidrig auf.

      Der VfGH begründete die Aufhebung mit der rechtsstaatlichen Dimension der Kundmachung von Rechtsvorschriften.

       In der Folge ist diese berühmt gewordene Aussage des VfGH nicht nur in zahlreichen weiteren Erkenntnissen des VfGH, sondern auch in der Lehre wiederzufinden. So bezog sich der VfGH ua im „Denksporterkenntnis“ vom 29. Juni 1990 (VfSlg 12420) auf diese Aussage und führte hier betreffend einer kaum verständlichen  Bestimmung des Arbeitslosenversicherungsgesetzes des Weiteren aus, dass eine Norm, die „nur mit subtiler Sachkenntnis, außerordentlichen methodischen Fähigkeiten und einer gewissen Lust zum Lösen von Denksport-Aufgaben überhaupt verstanden werden kann“, keine verbindliche Wirkung hat.

    • Auszug aus dem Erkenntnis vom 14. Dezember 1956, G 30/56  

      Auszug aus dem Erkenntnis vom 14. Dezember 1956, G 30/56.

    erweitern
Hintergrundfarbe für den Eintrag: