VfGH-Prüfungsverfahren zu Nitrat-Verordnung und ABBAG-Gesetz
In seinen kürzlich beendeten Beratungen hat der VfGH über ca. 350 Fälle entschieden. Diese Entscheidungen werden nun nach und nach ausgefertigt und den Verfahrensparteien zugestellt; erst dann ist eine Veröffentlichung möglich.
Ist Nitrat-Aktionsprogramm-Verordnung gesetzwidrig?
Der VfGH hat beschlossen, von Amts wegen zu prüfen, ob die Nitrat-Aktionsprogramm-Verordnung (NAPV) des Bundesministers für Land- und Forstwirtschaft in der Fassung von 2017 gesetzeskonform ist. Anlass für die Prüfung ist die Beschwerde eines burgenländischen Wasserleitungsverbandes, einer Privatperson, die einen Hausbrunnen besitzt, und einer burgenländischen Gemeinde, die einen Brunnen betreibt.
Die Beschwerdeführer hatten in verschiedenen Verfahren seit 2015 versucht, ihr Recht auf Umsetzung der unionsrechtlichen Nitratrichtlinie, mit der der Nitratgehalt im Grundwasser verringert werden muss, durchzusetzen. Im Zuge dieser Verfahren wurde auch der EuGH in einem Vorabentscheidungsverfahren befasst, der in seinem Urteil am 3. Oktober 2019 feststellte, dass natürliche und juristische Personen wie die Beschwerdeführer ein subjektives Recht haben, von den zuständigen nationalen Behörden zu verlangen, dass die unionsrechtlichen Vorschriften zur Verringerung des Nitratgehalts umgesetzt werden.
Die damalige Bundesministerin stellte in der Folge zwar mit Bescheid fest, dass über die in der NAPV festgelegten Maßnahmen hinaus weitere Maßnahmen bzw. verstärkte Aktionen erforderlich seien, damit der Nitratgehalt im Grundwasser an bestimmten Brunnen der Beschwerdeführer 50 mg/l nicht überschreite und damit die unionsrechtlichen Vorschriften umgesetzt werden, eine Umsetzung durch Änderung oder Neuerlassung der Verordnung erfolgte aber nicht.
Die Beschwerdeführer erhoben deshalb Säumnisbeschwerde an das Verwaltungsgericht Wien. Dieses wies die Beschwerde zurück, weil die Erlassung einer Verordnung nicht mit Säumnisbeschwerde durchgesetzt werden könne. Dieser Beschluss des Verwaltungsgerichts Wien wurde beim VfGH angefochten.
Der VfGH hat das Verfahren bei ihm unterbrochen und ein Verfahren zur Prüfung der bestehenden NAPV eingeleitet. Er ist vorläufig der Auffassung, dass das Wasserrechtsgesetz 1959 (WRG) den Landwirtschaftsminister auf Grund des Rechtsanspruchs der Beschwerdeführer verpflichtet, Maßnahmen gegen eine Überschreitung des in der Nitrat-Richtlinie festgelegten Schwellenwerts für den Nitratgehalt von Trinkwasser von 50 mg/l zu erlassen. Da der Bundesminister seit dem EuGH-Urteil vom Oktober 2019 säumig ist, dürfte die NAPV gegen das WRG verstoßen.
Die Verordnung wurde zur Gänze in Prüfung gezogen, im Verordnungsprüfungsverfahren wird jedoch zu erörtern sein, ob es auch genügt, nur einzelne Bestimmungen der Verordnung aufzuheben, um den Beschwerdeführen zu ihrem Recht zu verhelfen. Ebenso wird der VfGH zu prüfen haben, ob die Beschwerdeführer auf einem anderen Weg, z.B. in einem verwaltungsbehördlichen Bescheidverfahren ihre Rechte durchsetzen können, obwohl das WRG vorschreibt, dass solche Maßnahmen per Verordnung des Bundesministers zu treffen sind.
Der VfGH holt dazu eine Stellungnahme des Bundesministeriums für Landwirtschaft ein. Nach Vorliegen der Stellungnahme nimmt der Verfassungsgerichtshof Beratungen im Verordnungsprüfungsverfahren auf.
(E 394/2021)
Gewährung von COVID-19-Finanzhilfen durch die COFAG: VfGH leitet Gesetzesprüfungsverfahren ein
Ebenso hat der VfGH beschlossen, mehrere Bestimmungen des Bundesgesetzes über die Errichtung einer Abbaubeteiligungs AG des Bundes (ABBAG-Gesetz) von Amts wegen auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen. Den Anlass dafür bildet ein Antrag der Wiener Lokalbahnen Verkehrsdienste GmbH (WLV), die sich gegen Bestimmungen in den Richtlinien für die Gewährung eines Fixkostenzuschusses wendet (siehe diese Pressemitteilung).
Das ABBAG-Gesetz sieht vor, dass zugunsten von Unternehmen, die pandemiebedingt in finanzielle Schwierigkeiten geraten sind, „finanzielle Maßnahmen“ ergriffen werden können. Zu diesem Zweck wurde die COVID-19 Finanzierungsagentur des Bundes GmbH (COFAG) gegründet und vom Bund so ausgestattet, dass sie Finanzhilfen bis zu einem Höchstbetrag von 19 Mrd. Euro gewähren kann. Die COFAG ist bei ihrer Tätigkeit an Richtlinien gebunden, die vom Bundesminister für Finanzen im Einvernehmen mit dem Vizekanzler in Verordnungsform festgelegt werden.
Der VfGH hat zunächst das Bedenken, dass die Abwicklung der COVID-19-Finanzhilfen durch die COFAG gegen das Sachlichkeitsgebot und das verfassungsrechtliche Effizienzgebot verstoßen könnte. Auch scheint es den verfassungsrechtlichen Grundsätzen der Verwaltung zu widersprechen, dass die COFAG bei ihrer Tätigkeit nicht unmittelbar Weisungen des Bundesministers für Finanzen unterliegt. (Einen früheren Antrag, in dem andere Gründe vorgebracht wurden, denen zufolge die Einrichtung der COFAG verfassungswidrig sei, hat der VfGH im Dezember 2021 abgewiesen, siehe dazu hier. Der VfGH kann über Anträge auf Prüfung einer Rechtsvorschrift nur anhand der jeweils vorgebrachten Bedenken entscheiden.)
Schließlich dürfte es gegen das Recht auf Eigentum, das Rechtsstaatsprinzip und den Gleichheitsgrundsatz verstoßen, dass die betroffenen Unternehmen nach dem ABBAG-Gesetz keinen Rechtsanspruch auf Finanzhilfen haben. Nach der Judikatur der ordentlichen Gerichte können sich die Unternehmen nur darauf berufen, solche Leistungen ohne Diskriminierung zu erhalten. Ein bloßer Diskriminierungsschutz scheint aber deshalb nicht zu genügen, weil diese Finanzhilfen als Entsprechung (funktionelles Äquivalent) zu Entschädigungsansprüchen nach dem Epidemiegesetz 1950 anzusehen sein dürften, die behördlich durchsetzbar sind.
Der VfGH holt dazu eine Stellungnahme der Bundesregierung ein. Nach Vorliegen der Stellungnahme nimmt der Verfassungsgerichtshof Beratungen im Gesetzesprüfungsverfahren auf.
(V 139/2022 u.a.)