Geschichte des Verfassungsgerichtshofes
1867 bis 1918 – Vorläufer in der Monarchie: Reichsgericht – Staatsgerichtshof
Das Reichsgericht (1867–1919) in der konstitutionellen Monarchie war ein Vorläufer des Verfassungsgerichtshofes. Die besondere Bedeutung des Reichsgerichts liegt darin, dass einige institutionelle Besonderheiten, die den österreichischen Verfassungsgerichtshof von anderen Verfassungsgerichten unterscheiden, schon dort zu finden sind. Das Reichsgericht wurde im Rahmen der Dezember-Verfassung von 1867 eingerichtet. Seine Kompetenzen waren auf die Entscheidung bestimmter Kompetenzkonflikte, bestimmter vermögensrechtlicher Ansprüche gegen Gebietskörperschaften und solcher Ansprüche zwischen Gebietskörperschaften sowie auf eine Beschwerdemöglichkeit der Staatsbürger wegen Verletzung ihrer politischen Rechte beschränkt. 1919 sind diese Kompetenzen dem deutsch-österreichischen Verfassungsgerichtshof übertragen worden. Von diesem sind sie 1920 – in zum Teil erheblich erweiteter Form – auf den Verfassungsgerichtshof der Republik Österreich übergegangen. Der Präsident des Reichsgerichts und sein Stellvertreter wurden vom Kaiser ohne Vorschlag, die zwölf Mitglieder und vier Ersatzmänner zu gleichen Teilen aufgrund von Dreiervorschlägen der beiden Häuser des Reichsrats ernannt. Abgesehen vom Erfordernis einer nicht spezifizierten Sachkunde war eine weitere Qualifikation für die Mitglieder des Reichsgerichts nicht vorgesehen. Unvereinbarkeitsbestimmungen fehlten. Die Mitglieder des Reichsgerichts wurden auf Lebenszeit bestellt. Das Reichsgericht kannte bereits die Funktion der so genannten Ständigen Referenten, die das Gericht aus seiner Mitte für die Dauer von drei Jahren wählte. Dem Vorsitzenden des Reichsgerichts kam ein Stimmrecht grundsätzlich – abgesehen von besonderen Fällen, in denen Stimmgleichheit auftreten konnte – nicht zu.
Zur Entscheidung über Anklagen von Abgeordneten zum Reichsrat gegen Minister und über strafrechtliche Anklagen gegen Minister wurde 1867 ein Staatsgerichtshof eingerichtet, der bis 1919 bestanden hat. Dieser Gerichtshof setzte sich aus 24 unabhängigen, gesetzeskundigen Staatsbürgern zusammen, die je zur Hälfte vom Abgeordnetenhaus und vom Herrenhaus auf sechs Jahre gewählt wurden. Der Staatsgerichtshof ist niemals tätig geworden.
1919 bis 1920: (Deutsch-)Österreichischer Verfassungsgerichtshof
In der republikanischen Ära wurde 1919 der deutsch-österreichische Verfassungsgerichtshof geschaffen. Ihm wurden die Aufgaben des ehemaligen Reichsgerichts und des ehemaligen Staatsgerichtshofes übertragen. Darüber hinaus wurde diesem Gerichtshof erstmals in eingeschränktem Umfang die Kompetenz zugewiesen, Gesetze zu prüfen, nämlich Gesetzesbeschlüsse einer Landesversammlung auf Antrag der Staatsregierung. Er bestand aus einem Präsidenten, seinem Stellvertreter und zunächst acht Mitgliedern und vier Ersatzmännern. Ihre Zahl wurde im selben Jahr auf zwölf Mitglieder und sechs Ersatzmänner erhöht. Alle wurden zunächst vom Staatsrat (auf den die dem Kaiser nach der Dezemberverfassung von 1867 zustehenden Rechte übergegangen waren), dann vom Präsidenten der Nationalversammlung auf Vorschlag der Staatsregierung ernannt.
1920 bis 1934: Verfassungsgerichtshof nach dem Bundes-Verfassungsgesetz von 1920
Dem 1919 neu geschaffenen Verfassungsgerichtshof wurden mit der am 1. Oktober 1920 in der konstituierenden Nationalversammlung beschlossenen und am 10. November 1920 in Kraft getretenen Bundesverfassung (B-VG) alle Aufgaben zugewiesen, die in der Monarchie das Reichsgericht und der Staatsgerichtshof hatten. Als entscheidende Neuerungen kamen hinzu: die Zuständigkeit zur Prüfung der Gesetzmäßigkeit von Verordnungen und der Verfassungsmäßigkeit von Bundesgesetzen auf Antrag einer Landesregierung (die Prüfung von Landesgesetzen kam schon dem deutsch-österreichischen Verfassungsgerichtshof zu), die Zuständigkeit zur Prüfung von Bundes- und Landesgesetzen im amtswegigen Prüfungsverfahren, die Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Wahlen und die Zuständigkeit zur Entscheidung über Verletzungen des Völkerrechtes. Darüber hinaus wurden die Bestimmungen über die staatsrechtliche Verantwortlichkeit oberster Organe erweitert. Damit waren im Wesentlichen jene Zuständigkeiten festgelegt, die der Verfassungsgerichtshof heute noch hat. Der Präsident, der Vizepräsident und die eine Hälfte der Mitglieder und der Ersatzmitglieder wurden vom Nationalrat, die andere Hälfte vom Bundesrat auf Lebenszeit gewählt. Die Mitglieder mussten keine Juristen sein.
Unvereinbarkeitsbestimmungen wurden erstmals durch die B-VG-Novelle 1925 geschaffen. Außerdem kam es zu einer Modifizierung der Kompetenzen des Verfassungsgerichtshofes: So wurde ihm die Zuständigkeit eingeräumt, auf Antrag der Bundesregierung oder einer Landesregierung zu entscheiden, ob ein Akt der Gesetzgebung oder der Vollziehung in die Zuständigkeit des Bundes oder der Länder fällt (Kompetenzfeststellung).
Die B-VG-Novelle 1929 führte zu einer weitgehenden Umgestaltung der verfassungsrechtlichen Ordnung. Wesentliches Ziel der Novelle war die Stärkung der Stellung des Bundespräsidenten als Gegengewicht zum Parlament. Unter dem Titel der „Entpolitisierung des Verfassungsgerichtshofes“ wurde der Bestellungsmodus für die Mitglieder und Ersatzmitglieder in der im Wesentlichen noch heute geltenden Form eingeführt. Die Novelle sah die Ernennung durch den Bundespräsidenten vor sowie eine Teilung des Vorschlagsrechtes zwischen der Bundesregierung einerseits und den beiden Kammern des Bundesparlaments andererseits. Die Zahl der Mitglieder wurde auf einen Präsidenten, einen Vizepräsidenten, zwölf Mitglieder und sechs Ersatzmitglieder beschränkt, die alle eine juristische Qualifikation aufweisen mussten. Die amtierenden Mitglieder wurden abberufen und durch neu bestellte Mitglieder ersetzt. Die bereits existierenden Unvereinbarkeitsbestimmungen wurden ergänzt, insbesondere durch die Bestimmung, dass Angestellte oder Funktionäre einer politischen Partei nicht dem Verfassungsgerichtshof angehören dürfen. Weiters wurde eine Altersgrenze mit dem 70. Lebensjahr geschaffen. Die Novelle brachte dem Verfassungsgerichtshof auch eine erneute Modifizierung seiner Kompetenzen, im Gesetzesprüfungsverfahren wurde der Kreis der antragsberechtigten Institutionen um den Obersten Gerichtshof und den Verwaltungsgerichtshof erweitert.
Diese Verfassungsnovelle konnte das politische Klima in Österreich nicht entschärfen. Im Anschluss an eine Kontroverse über einen Abstimmungsvorgang im Nationalrat kam es am 4. März 1933 dazu, dass alle drei Präsidenten des Nationalrates ihr Amt niederlegten. Die Bundesregierung bezeichnete diesen Akt als „Selbstausschaltung des Nationalrates“, verhinderte dessen neuerliches Zusammentreten und regierte von da an, gestützt auf das so genannte Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz von 1917, durch Verordnungen und unter Ausschaltung der gesetzgebenden Organe autoritär. Der Verfassungsgerichtshof wurde mit mehr als 100 Anträgen auf Prüfung solcher Verordnungen befasst. Eine – gleichfalls auf das Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz gestützte – Regierungsverordnung (Besetzungsverordnung), verhinderte aber eine Entscheidung in ordnungsgemäßer Zusammensetzung (Ausschaltung des Verfassungsgerichtshofes).
1934 bis 1938: Verfassungssenat des Bundesgerichtshofes
Die Verfassung 1934 wurde ebenfalls durch eine auf dem Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetz von 1917 basierende Verordnung erlassen. Zur „Sanktionierung“ der neuen Verfassung wurde am Tag der Kundmachung durch Verordnung ein „Rumpfparlament“ einberufen, in dem die Abgeordneten der Sozialdemokratischen Partei fehlten, deren Mandate durch Verordnung erloschen erklärt worden waren. Diese Verfassung sah einen Bundesgerichtshof vor, der zur Sicherung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung und der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung berufen war und dem im Wesentlichen die Kompetenzen des früheren Verwaltungsgerichtshofes und des früheren Verfassungsgerichtshofes zukamen. Präsident, Vizepräsident und die zahlenmäßig nicht bestimmten übrigen Mitglieder ernannte der Bundespräsident auf Vorschlag der Bundesregierung. Eine juristische Qualifikation und zehnjährige Berufserfahrung sowie das Nichtvorliegen von Unvereinbarkeitstatbeständen waren Ernennungsvoraussetzungen. Der Gerichtshof erkannte in Senaten. Der Verfassungssenat wurde durch vier weitere Mitglieder verstärkt, die der Bundespräsident auf Grund von Dreiervorschlägen des Staatsrates und des Länderrates ernannte.
Nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich verlor der Bundesgerichtshof seine verfassungsrechtlichen Kompetenzen. Der Gerichtshof selbst bestand zunächst weiter, wurde 1940 zu einer Reichsbehörde mit der Bezeichnung „Verwaltungsgerichtshof in Wien“ umfunktioniert und 1941 organisatorisch mit anderen Verwaltungsgerichten des Deutschen Reiches als „Außensenat Wien“ zum Reichsverwaltungsgericht zusammengeschlossen.
Seit 1945: Verfassungsgerichtshof
Im Jahr 1945 wurde der Verfassungsgerichtshof mit seinen Kompetenzen vor 1933 wieder errichtet und nahm 1946 seine Tätigkeit wieder auf. In den folgenden Jahrzehnten wurden die Kompetenzen des Verfassungsgerichtshofes, aber auch einige organisationsrechtliche Bestimmungen ergänzt.
Mit einer B-VG Novelle aus dem Jahre 1964 wurde dem Verfassungsgerichtshof die Zuständigkeit zur Prüfung der Rechtmäßigkeit von Staatsverträgen übertragen.
In einer bedeutenden Novelle zum B-VG wurden 1975 die Bestimmungen für das Gesetzes- und das Verordnungsprüfungsverfahren vereinheitlicht und der Kreis der Antragsteller in diesen Verfahren erweitert: Als parlamentarisches Minderheitsrecht wurde für ein Drittel der Abgeordneten zum Nationalrat die Möglichkeit geschaffen, Bundesgesetze beim Verfassungsgerichtshof anzufechten. Einem Drittel der Mitglieder der Landtage wurde – nach Maßgabe der Landesverfassungen – das Recht eingeräumt, Landesgesetze zu bekämpfen. Weiters wurde jedes in zweiter Instanz zur Entscheidung berufene Gericht antragsberechtigt. Das neu geschaffene Instrument des Individualantrages ermöglichte es nunmehr – wenngleich unter sehr strengen Voraussetzungen – auch einer Einzelperson, eine Gesetzes- oder Verordnungsbestimmung direkt beim Verfassungsgerichtshof zu bekämpfen.
1981 und 1984 kam es zu Änderungen im B-VG, die der Entlastung des Verfassungsgerichtshofes dienten. Dem Gerichtshof wurde die Möglichkeit eingeräumt, unter bestimmten Voraussetzungen die Behandlung von Beschwerden gegen Verwaltungsakte gemäß Art. 144 B-VG abzulehnen. 1981 wurde die Volksanwaltschaft legitimiert, Verordnungen beim Verfassungsgerichtshof anzufechten.
Die 1988 neu geschaffenen Unabhängigen Verwaltungssenate konnten seit 1991 Normenprüfungen beantragen. Die Zuständigkeit des Verfassungsgerichtshofes, über Akte unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt zu entscheiden, entfiel. Darüber entschieden nun die Unabhängigen Verwaltungssenate, erst gegen deren Entscheidung konnte der Verfassungsgerichtshof angerufen werden. Weiters wurde einem Drittel der Mitglieder des Bundesrates das Recht eingeräumt, Bundesgesetze zu bekämpfen.
Das Vorschlagsrecht für die Besetzung von Richterstellen beim Verfassungsgerichtshof ist mit der B-VG-Novelle 1994 geändert worden. Die Verpflichtung des Nationalrates und des Bundesrates, dem Bundespräsidenten Dreier-Vorschläge für die Besetzung von Richterstellen zu erstatten, wurde abgeschafft. Die beiden Organe schlagen seither – ebenso wie die Bundesregierung – jeweils nur einen Kandidaten vor.
Mit der Verfassungsnovelle 1997 wurde der Unabhängige Bundesasylsenat als weiterer unabhängiger Verwaltungssenat mit besonderer Zuständigkeit eingerichtet. 2002 erhielt das Bundesvergabeamt das Recht, Gesetze und Verordnungen anzufechten.
Mit Wirkung 1. Juli 2008 wurde dem Verfassungsgerichtshof die Kompetenz übertragen, über Beschwerden gegen Entscheidungen des Asylgerichtshofes (welcher in Asylsachen als – gerichtsförmig organisierte – Rechtsmittelinstanz an die Stelle des Unabhängigen Asylsenates trat) wegen Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte oder in Rechten wegen Anwendung (vor allem) eines verfassungswidrigen Gesetzes oder einer gesetzwidrigen Verordnung zu entscheiden.
Die mit 1. Jänner 2014 in Kraft getretene Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 hat den Rechtsschutz in Angelegenheiten der Verwaltung umfassend neu gestaltet. Der sogenannte administrative Instanzenzug – also die Möglichkeit, verwaltungsbehördliche Entscheidungen bei einer übergeordneten Verwaltungsbehörde zu bekämpfen – wurde (ausgenommen in den Angelegenheiten des eigenen Wirkungsbereichs der Gemeinde) abgeschafft. An die Stelle der bisherigen Rechtsmittelbehörden einschließlich der unabhängigen Verwaltungssenate in den Ländern und des Bundesvergabeamtes traten insgesamt elf Verwaltungsgerichte erster Instanz: das aus dem Asylgerichtshof hervorgegangene Bundesverwaltungsgericht, das Bundesfinanzgericht sowie ein Landesverwaltungsgericht für jedes Bundesland. Gegen die Erkenntnisse und Beschlüsse dieser Gerichte kann Revision beim Verwaltungsgerichtshof und Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof erhoben werden.
Die Neuordnung der Verwaltungsgerichtsbarkeit bildete zweifellos die größte Verwaltungsreform seit 1925.
Eine weitere Neuerung trat mit 1. Jänner 2015 in Kraft: die sogenannte „Gesetzesbeschwerde“ (Parteienantrag auf Normenkontrolle). Dieser Rechtsbehelf ermöglicht es jeder Partei eines Verfahrens vor einem ordentlichen Gericht (Straf- oder Zivilgericht), aus Anlass eines Rechtsmittels gegen die in erster Instanz getroffene gerichtliche Entscheidung beim Verfassungsgerichtshof die Aufhebung von Rechtsvorschriften zu beantragen, die in dem betreffenden gerichtlichen Verfahren anzuwenden sind. Gleichzeitig wird der Kreis der Antragsberechtigten insoweit erweitert, als Gesetze in Hinkunft von jedem ordentlichen Gericht – auch wenn es in erster Instanz zuständig ist – wegen Verfassungswidrigkeit beim Verfassungsgerichtshof angefochten werden können.