Dezember-Session mit Fällen zu Sterbehilfe und Ibiza-Untersuchungsausschuss
Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) tritt am Montag, 23. November, zu einer Session zusammen, die auf drei Wochen anberaumt ist. Auf der Tagesordnung stehen rund 350 Fälle; 40 dieser Fälle werden im Plenum des Gerichtshofes beraten, die übrigen in Kleiner Besetzung.
Aktive Sterbehilfe (Tötung auf Verlangen) und Mitwirkung am Suizid
Nach den §§ 77 und 78 des Strafgesetzbuches ist aktive Sterbehilfe (Tötung auf Verlangen, wenn etwa ein Arzt auf expliziten Wunsch des Patienten ein tödliches Medikament verabreicht) sowie Mitwirkung am Suizid verboten. Beides ist mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren zu bestrafen.
Vier Antragsteller – darunter zwei Schwerkranke und ein Arzt – halten das Verbot der aktiven Sterbehilfe und das Verbot der Mitwirkung am Suizid aus mehreren Gründen für verfassungswidrig und haben daher beim VfGH die Aufhebung dieser beiden Bestimmungen des Strafgesetzbuches beantragt: Durch diese Rechtslage würden leidende Menschen gezwungen, entweder entwürdigende Verhältnisse zu erdulden oder – unter Strafandrohung für Helfer – Sterbehilfe im Ausland in Anspruch zu nehmen.
Zu diesem Fall fand am 24. September 2020 eine öffentliche mündliche Verhandlung statt.
(G 139/2019)
Verhüllungsverbot in Volksschulen („Kopftuchverbot“)
Seit einer Novelle zum Schulunterrichtsgesetz (SchUG) aus dem Jahr 2019 ist es Volksschülerinnen und Volksschülern untersagt, „weltanschaulich oder religiös geprägte Bekleidung zu tragen, mit der eine Verhüllung des Hauptes verbunden ist“.
Gegen diese Regelung (§ 43a SchUG) wenden sich zwei Kinder und deren Eltern. Die Kinder werden religiös im Sinne der sunnitischen bzw. schiitischen Rechtsschule des Islam erzogen. Sie sehen in dieser Vorschrift, die letztlich auf das islamische Kopftuch (Hidschab) ziele, einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Recht auf Religionsfreiheit bzw. auf religiöse Kindererziehung. Das Tragen eines Kopftuchs sei nämlich Teil der Glaubenspraxis im Islam. Zudem sei der Gleichheitsgrundsatz verletzt, weil andere religiös geprägte Bekleidung wie die jüdische Kippa oder die Patka der Sikhs von diesem Verbot nicht erfasst sei.
Dieser Fall stand bereits im Oktober 2020 auf der Tagesordnung des Gerichtshofes; die Beratungen werden nun fortgesetzt.
(G 4/2020)
COVID-19: Ausgangsverbot in Tiroler Gemeinden, Entschädigung für Verdienstentgang sowie Maskenpflicht und „Schichtbetrieb“ an Schulen
Seit März 2020 sind beim VfGH zahlreiche Anträge auf Gesetzes- bzw. Verordnungsprüfung eingelangt, mit denen die aus Anlass der Pandemie getroffenen (Schutz‑)Maßnahmen angefochten werden. Über einen Teil dieser Anträge wurde bereits im Juli bzw. im Oktober 2020 entschieden.
In der Dezember-Session behandelt der Gerichtshof folgende Fälle:
- Anträge des Landesverwaltungsgerichtes Tirol betreffend die Verordnung des Landeshauptmannes von Tirol vom 20. März 2020, mit der für alle Tiroler Gemeinden ein Ausgangsverbot sowie das Verbot der Abfahrt aus und der Zufahrt zu Gemeinden im Landesgebiet erlassen wurde (V 512/2020, V 535/2020);
- Beschwerden von Unternehmen, die nach dem Epidemiegesetz 1950 Anspruch auf Entschädigung für den Verdienstentgang erheben, der ihnen durch die Beschränkungen vom Frühjahr 2020 entstanden ist (E 3412/2020 ua.);
- einen Antrag betreffend Schutzmaßnahmen im Schulwesen, nämlich die Verpflichtung zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes im Schulgebäude außerhalb des Klassenzimmers sowie die Teilung der Klassen in Gruppen, denen abwechselnd in der Schule und daheim Unterricht erteilt wird (V 436/2020).
Mitglieder des Ibiza-Untersuchungsausschusses fordern Vorlage des vollständigen „Ibiza-Videos“
Ein Viertel der Mitglieder des Ibiza-Untersuchungsausschusses des Nationalrates hat im Zusammenhang mit dem sogenannten Ibiza-Video den VfGH angerufen. Die antragstellenden Abgeordneten aus den Reihen der SPÖ, der FPÖ, der Grünen und der NEOS beantragen die Feststellung, dass die Bundesministerin für Justiz verpflichtet ist, dem Untersuchungsausschuss das Ton- und Bildmaterial des Ibiza-Videos und die dazugehörigen Transkripte unabgedeckt (ungeschwärzt) vorzulegen.
Die Abgeordneten wenden sich dagegen, dass die Oberstaatsanwaltschaft Wien dieses Material dem Ausschuss mit umfangreichen Abdeckungen (Schwärzungen) vorgelegt habe; so seien im Video Sequenzen in der Gesamtlänge von rund neuneinhalb Minuten ausgeblendet worden. Nach Ansicht der Abgeordneten ist die Justizministerin damit ihrer verfassungsrechtlichen Verpflichtung zur vollständigen Vorlage der Akten und Unterlagen im Umfang des Untersuchungsgegenstandes des Untersuchungsausschusses nicht nachgekommen.
(UA 3/2020)
ORF: Verletzung des Objektivitätsgebotes durch Bezeichnung eines Politikers als „plemplem“?
Am 25. Juli 2016 wurde auf ORF 2 in der Reihe „Sommergespräche“ ein Interview mit dem Obmann einer damals im Nationalrat vertretenen Partei ausgestrahlt. In der nachfolgenden Sendung „ZIB 2“ analysierte ein Politikwissenschaftler das Interview, wobei er den betroffenen Politiker abschließend auch als „plemplem“ bezeichnete. Die Moderatorin der „ZIB 2“ distanzierte sich von diesem Ausdruck nicht.
In der Folge stellte die Kommunikationsbehörde Austria (KommAustria) auf Grund der Beschwerde einer Einzelperson (Popularbeschwerde) nach dem ORF-Gesetz fest, dass durch diese Aussage und die unterbliebene Distanzierung das für den ORF geltende Objektivitätsgebot verletzt worden sei. Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte diese Entscheidung der KommAustria.
Der ORF hat gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts Beschwerde an den VfGH erhoben, weil er die Meinungsäußerungs- und Rundfunkfreiheit verletzt sieht.
(E 2281/2020)
Niederösterreichische Gemeinderatswahl: VfGH entscheidet über die Wählbarkeit von Unionsbürgern in den Stadtrat von Mödling
In der konstituierenden Sitzung des neu gewählten Gemeinderates der Stadt Mödling vom 29. Februar 2020 fand die Wahl des Stadtrates (Gemeindevorstandes) der Stadt Mödling statt.
Die Liste NEOS hatte zur Besetzung des einzigen ihr zustehenden Sitzes im Stadtrat einen Wahlvorschlag vorgelegt, der aus einem deutschen Staatsangehörigen bestand. Über Aufforderung des Vorsitzenden des Gemeinderates legte NEOS einen ergänzenden Wahlvorschlag mit einem österreichischen Staatsbürger vor, der dann in den Stadtrat gewählt wurde.
Die Liste NEOS ficht diese Wahl an. Sie erhebt Bedenken gegen jene Bestimmung der NÖ Gemeindeordnung 1973, wonach nur österreichische Staatsbürger in den Gemeindevorstand gewählt werden dürfen. Diese Einschränkung verstößt laut NEOS insbesondere gegen die Kommunalwahlrichtlinie der Europäischen Union, wonach „Unionsbürgern in jenem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Wohnsitz haben, das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen nach denselben Bedingungen wie für die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaates zukommt“.
(W I 9/2020)
Sitzungsablauf
Zum Schutz vor Infektionen mit COVID-19 erfolgen die Beratungen der 14 Verfassungsrichterinnen und -richter unter Einhaltung von strengen Hygieneregeln und eines Abstands von zwei Metern zwischen den Personen.
Werden Fälle auf die Tagesordnung einer Session gesetzt, bedeutet dies nicht automatisch, dass diese Fälle auch in derselben Session entschieden werden. Wenn noch Fragen geklärt werden müssen, ist eine Verschiebung in eine spätere Session möglich.
Der VfGH gibt seine Entscheidungen durch Zustellung an die Verfahrensparteien oder mündliche Verkündung bekannt. Bis dahin kann der VfGH keine Aussage über die Art der Erledigung eines Falles treffen.