Juni-Session 2020 mit Fällen betreffend u.a. COVID-19, Sterbehilfe und Verhüllungsverbot in Volksschulen
Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) tritt am Montag, 8. Juni 2020, zu einer Session zusammen, die bis 27. Juni anberaumt ist. Auf der Tagesordnung stehen rund 500 Fälle; rund 40 dieser Fälle werden wegen der Schwierigkeit der zu lösenden Verfassungsfragen im Plenum des Gerichtshofes beraten.
Fälle betreffend COVID-19
Der VfGH wird eine Reihe von Anträgen behandeln, die sich gegen Gesetze und/oder Verordnungen im Rahmen der COVID-19-Maßnahmen richten. Thematisch geht es dabei unter anderem um die folgenden Punkte:
- Ersatz des Verdienstentganges für Betriebe, für die auf Grund des COVID-19-Maßnahmengesetzes ein Betretungsverbot erlassen wurde (das COVID-19-Maßnahmengesetz sieht im Gegensatz zu Schließungen nach dem Epidemiegesetz keine Entschädigung vor; Antragsteller sind vor allem Tiroler Hoteliers)
- das Betretungsverbot für Betriebsstätten an sich bzw. für Betriebsstätten mit einem Kundenbereich größer als 400 m2 (Antragsteller ist ein Möbelhandelsunternehmen)
(G 180/2020, V 384/2020 und weitere Anträge)
Tötung auf Verlangen (aktive Sterbehilfe) und Recht auf (Privat-)Leben
Nach den §§ 77 und 78 des Strafgesetzbuchs ist aktive Sterbehilfe (Tötung auf Verlangen, wenn etwa ein Arzt auf expliziten Wunsch des Patienten ein tödliches Medikament verabreicht) sowie Mitwirkung am Suizid verboten. Beides ist mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren zu bestrafen.
Vier Antragsteller – darunter zwei schwer Kranke – halten das Verbot der aktiven Sterbehilfe und das Verbot der Mitwirkung am Suizid aus mehreren Gründen für verfassungswidrig und haben daher beim Verfassungsgerichtshof die Aufhebung dieser beiden Bestimmungen des Strafgesetzbuches beantragt: Durch diese Rechtslage würden leidende Menschen gezwungen, entweder entwürdigende Verhältnisse zu erdulden oder – unter Strafandrohung für Helfer – Sterbehilfe im Ausland in Anspruch zu nehmen. (G 139/2019).
Verhüllungsverbot in Volksschulen (verkürzt: "Kopftuchverbot")
Seit einer Novelle zum Schulunterrichtsgesetz (SchUG) aus dem Jahr 2019 ist es Volksschülerinnen und Volksschülern untersagt, „weltanschaulich oder religiös geprägte Bekleidung, mit der eine Verhüllung des Hauptes verbunden ist“, zu tragen.
Gegen diese Regelung (§ 43a SchUG) wenden sich zwei Kinder und deren Eltern. Die Kinder werden religiös im Sinne der sunnitischen bzw. schiitischen Rechtsschule des Islam erzogen. Sie sehen in dieser Vorschrift, die letztlich auf das islamische Kopftuch (Hidschab) ziele, einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Recht auf Religionsfreiheit bzw. auf religiöse Kindererziehung. Das Tragen eines Kopftuchs sei nämlich Teil der Glaubenspraxis im Islam. Zudem sei der Gleichheitsgrundsatz verletzt, weil laut Bundesregierung andere religiös geprägte Bekleidung wie die jüdische Kippa oder die Patka der Sikhs nicht unter das Gesetz fallen würden. (G 4/2020)
Verbot des Vertriebs von Plastiksackerln
Seit 1. Jänner 2020 ist das Inverkehrbringen von Kunststofftragetaschen („Plastiksackerln“) in Österreich weitgehend verboten. Die antragstellenden Unternehmen erzeugen bzw. vertreiben flexible Verpackungsmittel einschließlich Kunststofftragetaschen. Sie halten das angefochtene Verbot aus mehreren Gründen für verfassungswidrig: Auf Grund der Vorlaufzeit von fünf Monaten liege ein unverhältnismäßiger Eingriff in das Recht auf Erwerbsfreiheit der Erzeuger und Vertreiber von Plastiksackerln vor; auch sei die Regelung gleichheitswidrig, weil sie sich auf bestimmte Erzeugnisse aus Kunststoff beschränke; schließlich sei nicht berücksichtigt worden, dass Tragetaschen aus anderem Material ebenfalls nachteilige Auswirkungen auf die Umwelt und die Gesundheit hätten. (G 227/2019)
Begriff des Familienangehörigen im Asylgesetz 2005
Nach dem Asylgesetz 2005 ist Familienangehörigen eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist, auf Antrag ebenfalls der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen. Als Familienangehörige gelten u.a. die Eltern eines minderjährigen Asylberechtigten, Ehepartner und minderjährige Kinder des Asylberechtigten sowie der gesetzliche Vertreter eines Asylberechtigten, sofern dieser minderjährig und nicht verheiratet ist (§ 2 Abs. 1 Z 22 Asylgesetz 2005). Ist aber der oder die Asylberechtigte selbst gesetzlicher Vertreter eines minderjährigen Kindes, kann dieses Kind nicht denselben Schutzstatus erhalten. Konkret geht es um eine asylberechtigte Frau, die laut Beschluss eines österreichischen Bezirksgerichts Vormund eines minderjährigen Buben ist. Dieser hat auch die Beschwerde beim VfGH erhoben.
Der VfGH hat nunmehr zu entscheiden, ob diese Differenzierung dem verfassungsrechtlichen Gleichheitsgrundsatz sowie dem Bundesverfassungsgesetz über die Rechte von Kindern entspricht. (G 298/2019)
Neben diesem Fall wird der VfGH in der Session zahlreiche weitere Beschwerden aus dem Bereich Asylrecht behandeln.
Gemeinderatswahlen in Niederösterreich
Auf der Tagesordnung des VfGH stehen auch mehrere Wahlanfechtungen betreffend die Gemeinderatswahlen in Niederösterreich vom 26. Jänner 2020. Im Einzelnen geht es um die Gemeinderatswahlen in Kottingbrunn, Langenrohr, Litschau und Marchegg. (W I 2/2020 ua.)
Sitzungsablauf
An den Beratungen der Juni-Session nimmt erstmals auch die im April 2020 ernannte Vizepräsidentin Univ.-Prof. Dr. Verena Madner teil.
Zum Schutz vor Infektionen mit COVID-19 erfolgen die Beratungen der 14 Verfassungsrichterinnen und -richter unter Einhaltung von Hygieneregeln und eines Abstands von mindestens einem Meter zwischen den Personen.
Dass Fälle auf die Tagesordnung einer Session gesetzt werden, bedeutet nicht automatisch, dass diese Fälle auch in derselben Session entschieden werden. Wenn noch Fragen geklärt werden müssen, ist eine Verschiebung in die nächste Session möglich.
Der VfGH gibt seine Entscheidungen durch Zustellung an die Verfahrensparteien oder mündliche Verkündung bekannt. Bis dahin kann der VfGH keine Aussage über die Art der Erledigung eines Falles treffen.